Der Verlust von Energie, fehlende Antriebskraft und kollektives Burn-out sind Kennzeichen einer ermatteten Gesellschaft. Hartmut Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, beobachtet gesellschaftliche Veränderungen im Zuge der Coronakrise.
Im Gespräch (August 2020) mit Die Furche-Chefredakteurin Doris Helmberger-Fleckl äußert sich Rosa dazu und wirft die Frage auf: Ist es möglich, dass die gesamte Gesellschaft ihre Energie verliert? Dass wir kollektiv ins Burn-out fallen? Empirische Daten lägen dazu noch nicht vor, so der Soziologe. Viele Menschen berichteten, dass sie sich gerade in der Zeit des Lockdowns, wo sie doch eigentlich mehr Zeit zur Verfügung hätten, müde, antriebslos und ermattet fühlten. Zuweilen habe man den Eindruck, dass selbst so alltägliche, körperliche Tätigkeiten wie Treppensteigen schier unmöglich erscheinen.
Selbst im Zuge der ersten Lockerungen nach dem Lockdown, wo Kneipen- oder Vereinsbesuche wieder möglich gewesen wären, zeigte sich, dass viele Menschen dennoch lieber zu Hause blieben — Verlust der Tatkraft aufgrund zunehmender Antriebslosigkeit und eines Mangels an Freude.
„Offensichtlich ist die Energie, die aus sozialem Kontakt und Begegnungen entsteht, gelähmt und stillgelegt worden“, so Rosa.
Er beschäftigt sich in Folge mit diesem Phänomen und stellt die Frage, wie sich zwischen Menschen Energie aufbauen kann und welchen Stellenwert dabei körperlicher Kontakt einnimmt. Die kinetische Energie, die Bewegungsenergie unserer Zeit ist durch Corona extrem gesunken, denn Reisen sind nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich, und unsere Aktionsradien sind deutlich verringert. So sind zum Beispiel über 90 Prozent der weltweiten Flüge ausgefallen, und Bahnreisen wurden durch Kapazitätsbeschränkungen infolge von Abstandsregelungen reduziert.
Professor Rosa nennt es die „massive Verkürzung der Weltreichweite“ — die bislang ja stetig angestiegen war. Gleichsam über Nacht und langfristig wurden unser Bewegungsradius und die damit verbundenen Freiheiten und Möglichkeiten sehr wesentlich eingeschränkt. Mir drängt sich hierbei das Bild eines Unschuldigen auf, der aufgrund eines Fehlurteils im Gefängnis sitzt.
Manche empfinden diese Verlangsamung als wohltuende Entschleunigung eines zuvor hektischen Alltages. Für eine große Anzahl der Menschen ist diese erzwungene Verlangsamung jedoch ein großer Stressfaktor, der sich durch Verlust oder Reduktion des Arbeitsplatzes, Kinderbetreuung unter schwierigen Bedingungen und Pflege von Angehörigen äußert. Zur verlangsamten Zeit kommt der reduzierte Raum. Die Beschränkung auf die eigene Wohnung, den engsten Umkreis, ist besonders für aktive und sehr soziale Menschen problematisch. Andererseits konnten manche Menschen diese Situation auch genießen. Sie sahen die Zeit des Innehaltens und der Langsamkeit als Möglichkeit, als Zugewinn.
Viele Menschen konnten neue Hobbys und bereichernde Optionen im häuslichen Umfeld für sich entdecken, wie zum Beispiel das Augenmerk auf gesunde Ernährung, die eigene Herstellung von Lebensmitteln, das Genießen von Kunst, Literatur und Musik als Folge von bewusst gestalteter Entschleunigung.
Diese bewusste Entschleunigung gelingt allerdings nur Menschen, die zuvor beschleunigt gelebt hatten und nun quasi auf ein normales Maß der Beweglichkeit und Bewegung zurückfahren können. Wie lange diese Entschleunigung als Wohltat erkannt wird, sei dahingestellt. Denn ein Zuviel an Entschleunigung bedeutet Stillstand. Es bleibt jedoch die Tatsache, dass das Leben nicht mehr so planbar und verfügbar ist, wie man es bisher gewohnt war. Plötzlich tritt etwas in unser Leben, das uns massiv außerhalb der schützenden eigenen vier Wände bedroht in Form eines unbekannten und erschreckenden Virus.
Hartmut Rosa bezeichnet das Coronavirus als „Monster der Unverfügbarkeit“.
Unkalkulierbare wirtschaftliche und soziale Auswirkungen, die wir nicht im Griff zu haben scheinen, bedrohen uns — ein Albtraum der modernen Zeit, in der alles machbar und kontrollierbar erscheint, jedoch in der Realität im Gegensatz zur Erwartung nicht kontrollierbar ist.
Die soziale Energie ist also reduziert, gelähmt, stillgelegt. Wie kann man die verschüttete intrinsische Motivation und Sehnsucht der Menschen nach sozialen Kontakten wieder neu entfachen? Die Frage ist, welche sozialen Energien diese Unverfügbarkeit nun freisetzt. Solidarität? Zivilcourage? Mut?
Zwei Tendenzen werden sichtbar: Gemeinsamkeit eint in der Krise, Einkaufen für den kranken Nachbarn, engerer Zusammenhalt in Familie und Bekanntenkreis. Die Not in der Krise vereint in neuer ungekannter Art und Weise und verschafft uns ein neues Empfinden von Gemeinschaftssinn. Es entsteht eine Solidarität im Sinne gegenseitiger Hilfe, aber auch Solidarität im Widerstand gegen die Zwangsmaßnahmen bis hin zu einer Solidarität mit denen, die Zwangsmaßnahmen zu verantworten haben (Stockholm-Syndrom). Letzteres mag mit dafür verantwortlich sein, dass sich in den ersten 8 Monaten der politischen Coronakrise nur wenige Menschen wirklich öffentlich gegen die NPI-Maßnahmen (Non-Pharmaceutical Interventions) äußerten beziehungsweise sie hinterfragten.
Aber andererseits: Gemeinsamkeit entzweit, das Virus kann überall sein, Ansteckung und potenzielle Gefahr können auch vom besten Kollegen ausgehen. Die Unschuldsvermutung, eine unserer Grundfesten des zivilisierten Zusammenlebens, wird brachial außer Kraft gesetzt. Die Folgen sind Misstrauen, Distanz und Rückzug. Schlagworte dieser Zeit. Eine paradoxe Situation, die gerade für Kinder und Jugendliche schwer zu bewältigen ist.
Hartmut Rosa stellt fest, dass Kinder und Jugendliche verstärkt unter Isolation und Abstandsgebot leiden, vor allem bezüglich ihrer „Peergroup“. Nähe, Körperkontakt und Interaktion sind Faktoren, die viele junge Menschen sehr vermissen. Wie wichtig für die emotionale und soziale Entwicklung der Freundeskreis der Gleichaltrigen ist, zeigt sich in den Antworten der Jugendlichen auf die Frage: „Was vermisst du am meisten?“ „Dass ich meine Freunde nicht treffen kann!“ Das Gefühl, wehrlos und machtlos zu sein, ist bitter, macht einsam und zuletzt sprachlos.
Unterricht vor Corona war Lernen im Team, Gruppenarbeit, Nähe, Miteinander, „die Köpfe zusammenstecken“. Wenn Lehrer jetzt die Kinder „auseinandertreiben“ müssen, zum Sitzen am Einzelplatz auffordern, zum Tragen von Maske anhalten, dann ist das vor allem für jüngere Kinder schwer zu verstehen, und noch schwerer ist es, sich nachhaltig an diese Abstandsregeln zu halten. Vor allem, weil diese Regeln weitgehend nicht logisch erklärbar, stimmig angewandt und daher für ein Kind nicht nachvollziehbar sind und sinnvoll verinnerlicht werden können. Dennoch ist Präsenzunterricht immer noch viel besser als die Isolation durch Homeschooling.
Fehlende soziale Energie führt nicht nur zu Mattigkeit, Müdigkeit, Antriebslosigkeit und depressiver Grundstimmung.
Die Lehrkräfte beobachten einen weiteren Aspekt im schulischen Kontext, ein „Ummünzen“ der sozialen Energie in Negativenergie, die Zunahme aggressiver Zwischenfälle und verbaler Pöbeleien, vermehrte Fälle von Mobbing, ja eine deutlich geringere Resilienz.
Ein bis dato völlig unauffälliger Schüler schmeißt ohne erkennbaren Anlass mit Vehemenz eine leere Flasche auf den Boden. Auf den herumliegenden Scherben trampelt er herum und ist schwer zu beruhigen.
Ein zweites Beispiel: Eine Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Schülerinnen eskaliert derart heftig, dass sich beide Mädchen raufend und sich gegenseitig an den Haaren ziehend auf dem Boden wälzen und kaum zu trennen sind. Es könnten weitere Begebenheiten angeführt werden. Die Sprache ist vulgärer, der Ton deutlich rauer geworden.
Es ist auch hier das negative Vorbild von Politik und Gesellschaft, wo die Sprache deutlich rauer und unzivilisierter geworden ist. Begriffe wie „Zügel anziehen“ oder „brachial durchgreifen“, ja sogar Hasskommentare werden nahezu ungestraft und vor allem inflationär benutzt. „Ich hingegen möchte an dieser Stelle ausdrücklich um gesellschaftliche Nachteile für all jene ersuchen, die freiwillig auf eine Impfung verzichten. Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen“ (1).
Zurück zum schulischen Kontext: Die Sprechstunde der Schulsozialarbeiterin ist so frequentiert wie nie. Der positive Effekt dabei ist, dass die Schülerinnen und Schüler aus freien Stücken, aus eigener Initiative heraus kommen.
Ich wende mich nochmals den Ausführungen des Herrn Professor Rosa zu. Er beschreibt die Welt, wie wir sie bis dato kennen, wie wir uns in ihr bewegen, als Aggressionspunkt: Es muss ganz viel bewegt werden — hohe Dynamik, hohes Wachstum und hohe Geschwindigkeit spielen dabei eine wichtige Rolle. Was ist daraus geworden in Zeiten des Lockdowns? Die massive Verlangsamung in der realen Welt. In der digitalen Welt dagegen „rasen die Ströme immer noch“. Eine hässliche Begleiterscheinung ist die Zunahme von Cybermobbing.
Von John F. Kennedy stammt der Spruch: „Das Wort Krise setzt sich im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen zusammen — das eine bedeutet Gefahr und das andere Gelegenheit.“
Coronakrise als Gelegenheit? Krise als Chance? Was sagt der Soziologe dazu?
„Wenn man nach optimistischen Deutungen der Lage sucht, würde ich sagen, genau darin liegt die Chance: dass man neue Formen der Erfahrung des In-der-Welt-Seins und Miteinander-Umgehens erlebt, von denen wir vielleicht auch profitieren oder zehren können, wenn die ökonomischen Konsequenzen, die unerfüllbaren Steigerungszwänge zuschlagen.“
Derzeit fällt es zugegebenermaßen schwer, Positives und Chancen in der Krise zu entdecken. Der Verlust von Arbeitsplätzen, wankende Gesundheitssysteme, bildungspolitische Kapriolen, reduziertes Tempo, schwindende soziale Energie. Herausforderungen, die uns zum „Phönix aus der Asche“ machen? Das Virus, „der Feind“, zwingt uns dazu, diese Herausforderungen anzunehmen. Das Virus, das im Rahmen unserer Evolution immer ein Freund war, denn große Teile unseres Genoms bestehen aus viralem Erbmaterial, welches wir in der Evolution der Menschheitsgeschichte in uns inserierten und damit zum Beispiel erst komplexe Stoffwechselwege ermöglichten.
Ja, Solidarität ist spürbar, in Form von Rücksichtnahme der Jüngeren auf die Älteren und Schwächeren, auf die freiwillige Einschränkung der persönlichen Freiheiten. Aber Hartmut Rosa drückt es so aus: „Da bin ich nicht so überzeugt, dass die Corona-Erfahrung ausreicht, um uns plötzlich in durch und durch zivilisierte Menschen zu verwandeln. Wir sollten nicht blauäugig sein.“
Wir dürfen nicht resignieren, trotz der komplexen und gewaltigen Herausforderungen, vor denen wir stehen.